„Wichtig ist, nicht zu urteilen“

Interview mit Fabian Oberthür, Leiter der AWO Schuldnerhilfe

Foto: Grenz/AWO Essen

Fabian Oberthür leitet die Abteilung „Soziales“ der AWO Essen und die AWO Schuldnerhilfe gGmbH. Im Interview sprach er über seine Arbeit und den Sinn darin, sein Vorleben als Banker und vieles mehr.

Fabian, erläutere uns doch einmal, was die AWO Schuldnerhilfe so macht.

Fabian Oberthür: Die AWO Schuldnerhilfe bietet entgeltfreie Beratung für alle Essener Bürgerinnen und Bürger, die in eine Ver- oder Überschuldungssituation geraten sind. Überschuldung bedeutet, dass der oder die Betroffene nicht mehr aus eigener Kraft die Schulden begleichen kann. Den größten Anteil machen Empfängerinnen und Empfänger von SGB II-Leistungen aus, die uns direkt vom Jobcenter geschickt werden. Unsere anderen Ratsuchenden sind Personen, die keine derartigen Leistungen beziehen. Für die gibt es eine offene Sprechstunde nach Termin. Zusätzlich sind wir noch in der Bewährungshilfe aktiv. Außerdem arbeiten wir in der Vorbeugung (Prävention) mit Personengruppen unter 25 Jahren, vermitteln finanzielle Bildung an Schulen oder entwickeln Aufklärungsmaterial. Und schließlich bieten wir auch Fachberatungen für andere Schuldnerhilfen in strukturellen und inhaltlichen Fragen an.

Wie viel kommt da im Jahr zusammen?

F.O.: Zusammen genommen haben wir im vergangenen Jahr ca. 2500 Menschen beraten. Wie oft die einzelnen Personen zu uns kommen, ist je nach Fall unterschiedlich, üblicherweise werden Ratsuchende zwischen drei und sechs Monate begleitet, in einigen Fällen ist eine Stabilisierung der finanziellen Situation oder eine Entschuldung gar erst nach Jahren der Beratung möglich. In der Prävention haben wir im vergangenen Jahr deutlich über 300 Menschen erreicht.

Wie geht man als Schuldnerberater in den individuellen Terminen vor?

F.O: Der Fokus liegt schon auf den Schulden, aber tatsächlich haben wir eine soziale Schuldnerberatung und wir haben sehr, sehr viele Baustellen. Der Strom ist abgeklemmt, die Menschen können gerade kein Essen für ihre Kinder kaufen oder Ähnliches. Da müssen wir schauen, wie wir die soziale und psychosoziale Situation im Haushalt stabilisieren. Dann kommt man erst zum Kern der eigentlichen Aufgabe, der Schuldnerberatung. Generell kann man sagen, dass wir Klarheit schaffen und dabei helfen, die nächsten Schritte zu gehen. Wir prüfen, was das Beste für den Menschen ist, weisen einen Weg, Stabilität zu erreichen oder auch heraus aus der Situation und helfen dabei, diesen Weg dann auch zu gehen. Zusätzlich gibt es Themen wie Migration, Sprachbarrieren, Sucht, Pflegebedürftigkeit, Hilflosigkeit im Alltag und so weiter zu berücksichtigen. Jeder Fall ist ein bisschen bis sehr anders. Wichtig ist, sich einzulassen, den Menschen Wertschätzung entgegenzubringen und nicht zu urteilen. So erreichen wir letztendlich mehr soziale Teilhabe für unsere Ratsuchenden.

Das klingt auch ein bisschen bedrückend.

F.O.: Die Bedrückung wird häufig ins Gegenteil verkehrt. Die Menschen kommen hier an und sind gestresst, haben Sorgen und Ängste, die vor allem aus Ungewissheit entstehen. Wir holen diese Ungewissheiten ans Licht und sagen, ,Schau‘ mal, durch diese Ungewissheit fühlte sich die Herausforderung sehr groß und schwer zu greifen an, das hier steckt wirklich dahinter‘. Gleichzeitig dürfen die Menschen wissen, dass sie in ihrer Situation nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte haben. Sie gehen dann hier raus mit einem roten Faden, was zu tun ist und wissen: Man kann mir nicht die Couch wegpfänden oder ich werde wegen meiner Schulden nicht verhaftet - und ich bin nicht allein. Das ist eine riesige Erleichterung für unsere Ratsuchenden. Und das ist auch ein wahnsinnig schöner Effekt für den Beratenden. Das hat mich darin bestärkt zu sagen: Das will ich machen.

Werdet Ihr auch konkret aktiv?

F.O.: Wir sprechen mit Energieversorgern, mit Gläubigern, handeln Vergleiche aus, besprechen Ratenzahlungen und vieles mehr. Anträge für Transferleistungen  stellen wir nicht, geben aber  Hinweise und unterstützen. Allerdings wenn wir sehen, dass ein Jobcenter-Bescheid offenkundig falsch ist, geben wir auch da einen Hinweis. Unser letzter Schritt ist ein außergerichtlicher Einigungsversuch mit den Gläubigern, wir machen denen dann ein Angebot. Oder eben die Verbraucherinsolvenz.

Gibt es ein Muster für das finanzielle und gesellschaftliche Abrutschen?

F.O.: Essen hat leider eine sehr hohe Verschuldungsquote, der Hauptauslöser ist Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig sind Menschen stark auf Social-Media-Kanälen unterwegs und dort werden Wünsche geweckt. Die Menschen schauen zu sehr auf andere, und die vielen Fantasiebilder, die dort als erreichbare Lebensstandards suggeriert werden, unabhängig von der eigenen finanziellen Situation. Das Thema Finanzen machen die meisten Menschen immer noch weitestgehend nur mit sich selbst aus. 

Was kannst Du empfehlen, nicht auch in eine Schuldenspirale zu geraten?

Es ist fast banal zu sagen: Man muss seine eigene Situation kennen und sich die Frage stellen, kann ich mir irgendetwas leisten oder nicht? Eine schwarze Null am Ende des Monats macht schon Sinn. Zahlungsdienstleister bergen mit Ratenangeboten Gefahren, finanzielle Bildung ist ein wahnsinnig wichtiges Thema. Auch wenn man erst übermorgen bezahlen muss: Gebe ich mein Geld für reinen Konsum aus, ist es weg. Letztendlich muss man auch beachten, dass viele Menschen „unverschuldet verschuldet“ sind, Stichwort „Lebenswege“. Wichtig ist in jedem Fall, sich bewusst mit seinen Finanzen auseinanderzusetzen und im Zweifel Rat zu suchen, auch wenn dies leider schambehaftet ist und somit immer gewissen Leidensdruck voraussetzt. 

Beruflich kommst Du aus einer ganz anderen Ecke, quasi der gegenüberliegenden.

F.O.: Ich bin Banker, genau. Aber gegenüberliegend ist nicht ganz richtig. Ich habe u.a. zehn Jahre lang für die GLS Gemeinschaftsbank in Bochum in verschiedenen Positionen gearbeitet. Das ist eine Genossenschaftsbank mit einem sozial-ökologischen Profil. Sie investiert in nachhaltige Projekte, anstatt mit dem Geld von Kunden an Finanzmärkten zu spekulieren. Ich hab‘ im Bankwesen immer mehr gesehen als Zahlen und Geld. Das Instrument Geld ist wahnsinnig wichtig in unserer Gesellschaft, wenn man es sinnvoll wirken lässt, kann sich viel Gutes entwickeln. Mein Ziel war auch immer, meiner Arbeit einen bestimmten Sinn zu geben. Und das war häufig auch möglich.

Trotzdem bist Du zur AWO gewechselt.

F.O.: Ich war seinerzeit an einem Punkt angelangt, wo ich fast nur noch mit Zahlen, Politik und Strategien zu tun hatte. Da hat sich schon die Sinnfrage gestellt. Zudem musste ich wahnsinnig viel Arbeitszeit investieren. Ich wurde Vater, aber war irgendwie nur Wochenend-Papa. Es war der Zeitpunkt gekommen, einen Schlussstrich zu ziehen. Dann habe ich mir Zeit genommen, etwas Neues zu suchen.

Aber der Sprung zu einem sozialen Träger ist schon ein großer Schritt.

F.O.: Ja, kann man sagen. Ich wäre auch nicht auf die Idee gekommen, Schuldnerberater zu werden. Durch private Kontakte bin ich auf die AWO aufmerksam geworden. Und mehr und mehr hat mich die Sache überzeugt. In diesem Beruf hat man sehr direkten und positiven Einfluss auf das Leben anderer Menschen. Das hat mich begeistert. Letztlich war das auch die Frage: Will ich meiner Tochter irgendwann mal erzählen, dass ich in einer Bank Arbeit mache, die schwer nachzuvollziehen ist oder dass ich etwas unmittelbar mit und für Menschen erreicht habe.

Lieber Fabian, vielen Dank für das Gespräch!

Individuelle Termine mit der AWO Schuldnerhilfe können Ratsuchende unter Tel. 0201 1897-60 oder per E-Mail an schuldnerhilfe@awo-essen.de vereinbaren.

 

Autor*in Markus Grenz
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