„Nie mehr zum Amt!“ – Was wir von Estland lernen können

Digitale Verwaltung neu gedacht – Ein Rückblick auf das Mittwochsgespräch vom 4. Juni

Estland gilt als digitaler Vorreiter in Europa – und das mit gutem Grund: Seit einem Vierteljahrhundert verfügt das Land über ein flächendeckendes Internetnetz und liegt in Sachen digitaler Verwaltung klar vor Deutschland. Christoph Eichhorn, ehemaliger deutscher Botschafter in Estland, zeigte den Teilnehmenden unseres Mittwochsgesprächs eindrucksvoll, wie digitale Verwaltung in der Praxis funktioniert.

Mit der digitalen ID-Card und einer doppelten Authentifizierung erledigen estnische Bürger*innen nahezu jeden Behördengang online – pragmatisch, einfach und ohne lange Formulare oder Wartezeiten. Steuererklärung? Kindergeld? Alles digital, effizient und auf Augenhöhe mit den Menschen. Das dahinterliegende Prinzip nennt sich „Personal Government“ – ein Staat, der auf Basis vorhandener Daten proaktiv handelt, statt Anträge einzufordern. Wer ein Kind bekommt, wird nicht gefragt, ob sie oder er Kindergeld beantragen möchte. Stattdessen kommt nach 24 Stunden eine E-Mail mit der Frage: Wohin dürfen wir das Geld überweisen?. Christoph Eichhorn fasste es treffend zusammen: „Pragmatisch bis auf die Knochen.“

Doch was braucht es, damit wir in Deutschland sagen können: „Nie wieder zum Amt“? Laut Eichhorn ist es vor allem ein „Mindset-Problem“. Das „Mindset“ beschreibt die Denkweise oder innere Einstellung einer Person. Der digitale Wandel beginnt im Kopf – mit der Bereitschaft, alte Gewohnheiten loszulassen und Verwaltung als modernen Dienstleister für Bürger*innen zu verstehen. Mit Blick auf die Herausforderungen in Deutschland fragte AWO Essen Vorstand Oliver Kern: „Wie nehmen wir den Menschen die Angst vor der Digitalisierung?“ Ein zentraler Punkt: Es geht nicht darum, morgen alle Ämter zu schließen. Der Weg ist ein praktischer – digitale Dienste müssen Schritt für Schritt im Alltag verankert und generationsübergreifend eingeführt werden. Wichtig dabei: Eine Kommunikation, die Menschen einlädt, nicht abschreckt. Wer digital will, muss es einfach bekommen. Wer nicht, wird eingeladen – nicht ausgeschlossen.

Der Abend machte klar: Digitale Verwaltung ist keine Technikfrage, sondern eine Frage der Haltung. Und: Wir sind längst auf dem Weg. Auch der Kreisverband der AWO ist dabei, neue digitale Formate zu etablieren – zum Wohle der Mitarbeitenden und Kund*innen. 

Zum Abschluss kündigte Oliver Kern bereits das nächste Mittwochsgespräch im Herbst an – dann zum Thema „Fake News und Desinformation“, erneut mit Christoph Eichhorn als Gesprächspartner. 

Autor*in Jaqueline Mota Tavares
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