60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen

Die AWO sprach mit drei ‚Gastarbeiter*innen‘ über die Anfänge in Deutschland und wie sie heute leben.

2021 jährt sich das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zum sechzigsten Mal. Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen rund 867.000 türkische Gastarbeiter*innen nach Deutschland. Die AWO sprach mit drei von ihnen über die Anfänge in Deutschland und wie sie heute leben.

Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten beide Länder das Dokument, mit dem sich türkische Arbeiter auf Stellen in Deutschland bewerben konnten. Ähnliche Vereinbarungen hatte die BRD bereits mit Italien, Griechenland und Spanien geschlossen. Der Arbeitskräftemangel veranlasste die Bundesrepublik in den 1960er Jahren, sogenannte ‚Gastarbeiter*innen‘ ins Land zu holen. Nicht nur im Bergbau, sondern auch in vielen anderen Bereichen fehlten Arbeitskräfte – etwa in der Metall- und Eisenindustrie, in der Textil- und Nahrungsmittelbranche, für Elektrotechnik und im Dienstleistungsbereich. Laut Statistischem Bundesamt umfasst die Gruppe älterer Migranten (65 Jahre oder älter) rund 1 Mio. Menschen in Deutschland (Stand 31.12.2020), die größte Gruppe der über 65-Jährigen stammt aus der Türkei (250.535).

Die Geschichten der Gastarbeiter*innen zeigen, dass die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland sowohl vor 60 Jahren als auch in der Gegenwart sehr heterogen ist. Das Anwerbeabkommen führt Türkeistämmige in Deutschland zusammen, die unterschiedliche religiöse und ethnische Identitäten haben und aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen. Ihr gemeinsames Ziel war es, Geld zu verdienen. Ihre Träume aber waren sehr unterschiedlich.

Herr Uçak und Herr Koçak: Neugier und Hoffnung auf einen sicheren Arbeitsplatz

Beide heißen mit Vornamen ‚Abdullah‘ und kamen 1970 nach Deutschland. Einer ging nach Köln zu Ford, der andere zu einer Textilfabrik nach Oldenburg. Einer stammt aus Istanbul, der andere aus Gaziantep (Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in Anatolien). Einer kam, um Geld zu verdienen, den andere trieb Neugier in ein fremdes Land. Einer war damals verheiratet, der andere war Single. Einer wohnt immer noch in Deutschland, der andere lebt überwiegend in der Türkei.

Abdullah Uçak kommt im Rollstuhl zum Gespräch. Im letzten Jahr hat er einen Schlaganfall erlitten, seitdem ist er nicht mehr so richtig gesund. Wir treffen uns in einem Café, in dem er Stammkunde ist. Viele Leute kennen ihn, er begrüßt sie alle. Der heute 77-jährige kam im März 1970 als Elektroniker nach Deutschland. Er sei nicht aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland gekommen, berichtet er, er habe in Istanbul ein gutes Leben gehabt. Er wollte Auslandserfahrung sammeln, neue Leute, neue Kulturen kennenlernen. Im ersten Jahr arbeitete er für Ford in Köln, danach zog er nach Essen, weil seine Freunde dort lebten.

In Essen arbeitete Herr Uçak zunächst im Bergbau und bis zu seinem 70. Lebensjahr im Bereich Elektrotechnik. Eines Tages, so erzählt er noch heute mit deutlich spürbaren Emotionen, schickte ihm seine Mutter per Post das Foto einer hübschen Frau, in die er sich sofort verliebt habe. Er reiste zu ihr nach Istanbul, überzeugte sie, ihn zu heiraten und nahm sie mit nach Deutschland. Seine Frau und er hätten sich von Anfang an für ein Leben in Deutschland entschieden. Er erzählt gerne von seiner Frau, die vor zwei Jahren gestorben ist. Er erzählt, wie hübsch sie war und wie glücklich sie miteinander waren; er erinnert sich an alle Details, an die Verlobung und an die Hochzeit ….

Heute lebt Abdullah Uçak allein in einer betreuten Wohnung, ganz in der Nähe seiner Tochter. Er hat vier Kinder und zahlreiche Enkelkinder, die alle in Deutschland leben. Herr Uçak hat keine Sprachschule besucht, er hat deutsch durch die Arbeit gelernt. Er sagt, dass er oft bei der AWO (Türk-Danış) war, um sich beraten zu lassen, wenn er Hilfe benötigte. Seiner Meinung nach ist die Sprache nach wie vor der Schlüssel zur Integration.

Abdullah Koçak erinnert sich genau an einen Fingerfertigkeits-Test Ende der 60er Jahre. Jeweils in einer Minute konnte er mit der rechten Hand 38 und mit der linken Hand 32 Stöpsel in Löcher stecken. So hat Herr Koçak den Feinmotorik-Test in Istanbul bestanden und kam nach Deutschland, um Geld zu verdienen. Zunächst arbeitete er in einer Textilfabrik. Später wechselte er zum Bau. Schon in der Türkei hatte er als Bauarbeiter sein Geld verdient. An seine Kollegen erinnert er sich gern, bis zur Rente blieb er beim Bau.

Kinder und Enkelkinder von Herrn Abdullah Koçak sind in Deutschland geboren. Sie leben hier, seine Frau und er aber verbringen inzwischen die meiste Zeit des Jahres in der Türkei. Sie kommen jedes Jahr für eine kurze Zeit nach Deutschland –zur Gesundheitsvorsorge. Der 73-Jährige erzählt über die finanziellen Schwierigkeiten, die ältere Zuwanderer in Deutschland haben. Mit ihren zumeist kleinen Renten könnten türkische Rentner in der Türkei besser leben, sagt er.

 

Frau Çoraks Traum: Ein eigenes Taxi

Obwohl zwischen 1961 und 1973 auch viele Gastarbeiterinnen nach Deutschland kamen, wird das Wort „Gastarbeiter“ fast ausschließlich mit Männern assoziiert. Laut Bundeszentrale für politische Bildung versechzehnfachte sich die Zahl der Gastarbeiterinnen in Deutschland zwischen 1960 und 1973 von anfangs rund 43.000 auf über 706.000. Der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der ausländischen Arbeitnehmer verdoppelte sich in diesem Zeitraum von 15 auf über 30 Prozent  (Quelle: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/289051/gastarbeiterinnen-in-der-bundesrepublik-deutschland , Stand 29.09.2021)

Emine Çorak ist eine dieser Gastarbeiterinnen; sie kam im Mai 1970 im Alter von 20 Jahren von Istandbul nach Deutschland. Ihr erster Job: Arbeiterin in einer Velberter Schlüsselfabrik. Die junge Frau wohnte mit weiteren 25 türkischen Frauen in einem Heim. Und sie hatte einen Traum: Sie wollte ein Auto kaufen. Sie habe in Deutschland so lange arbeiten wollen, bis sie sich in Istanbul ein Auto hätte leisten könnten, erzählt sie. Sie hatte in Istanbul bereits ihren Führerschein gemacht: „Autofahren war meine Leidenschaft. Ich habe mir gedacht: wenn ich mir ein Auto kaufe, kann ich vielleicht in Istanbul als Taxifahrerin arbeiten“, sagt die heute 71-jährige. Ihr Ziel hat sie erreicht. Aber nicht in Istanbul, sondern in Deutschland.

Als sie nach vier Jahren in Deutschland ihre Geschwister in Istanbul besuchte, blieb sie einfach länger in der Türkei - und verlor dadurch ihren Job in der Schlüsselfabrik. Sie hatte danach mehrere andere Jobs in Velbert, bis schließlich wieder eine Stelle in ihrer alten Fabrik frei wurde. Konnte sie in dieser Zeit Geld für ein Taxi zusammensparen? Sie lacht: „Es war nicht so einfach. Ich war eine junge Frau, ich habe das Geld lieber für Kleider und für Reisen ausgegeben.“

Das Autofahren aber blieb ihre Leidenschaft, sie machte ihren Taxiführerschein. Unbedingt wollte sie als Taxifahrerin arbeiten. Damit begann sie dann 1983 – an den Wochenenden. Es habe ihr so viel Spaß gemacht, sagt sie stolz „Damals war eine Türkin als Taxifahrerin sehr ungewöhnlich. In dieser Zeit gab es sogar nur wenige männliche türkische Taxifahrer.“ Bis 1996 arbeitete sie als Taxifahrerin, parallel zu ihrer Arbeit in der Schlüsselfabrik.

Wegen gesundheitlicher Probleme hörte Frau Çorak im Jahr 2000 mit der Arbeit auf. Sie zog wenige Kilometer weiter nach Mülheim und pendelt seit vielen Jahren zwischen Ruhrgebiet und Istanbul. In beiden Städten fühlt sich Emine Çorak wohl.                                                                                                      

Die AWO Essen bietet unter https://www.awo-essen.de/bildung-ausbildung/kurse-seminare/interkulturell spezielle interkulturelle Angebote zur Förderung der Integration. Unterstützt von "Integrationsagenturen NRW"

Autor*in Cagla Sorgun / Sandra Schönenborn
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