„Viele kommen nur mit dem Hemd am Leibe“

Maicl Platzek betreut im Auftrag der Stadt Essen und im Dienste der AWO die Bewohner*innen der Notunterkunft Liebrechtstraße

Maicl Platzek ist einer von zwei Sozialarbeitern der AWO in der städtischen Notunterkunft Liebrechtstraße in Überruhr. Foto: Grenz/AWO Essen
Hier sind Stadt und AWO Partner. Foto: Grenz/AWO Essen

„Das ist ein bisschen wie eine Wundertüte. Man kommt hier morgens an und weiß nicht, was da auf einen zukommt. Ich steige aus dem Auto und schon geht’s oft los.“ Noch häufiger werde ich während meines Besuches in der städtischen Notunterkunft an der Überruhrer Liebrechtstraße an die einführenden Worte von Diplompädagoge Maicl Platzek erinnert, der hier zusammen mit seinem Kollegen Kolja Scharpe im Auftrag der Stadt Essen und im Dienste der AWO für die Betreuung der Bewohner*innen zuständig ist. Kaum zehn Minuten am Stück ist es möglich, ohne Unterbrechungen zu sprechen. Eine Dame klopft ans Fenster des Büros, zeigt ihren neuen Pulli und singt Maicl etwas vor, der Nächste will Hilfe bei seinem Plan, seinen Hund hier unterzubringen, der Dritte einfach nur ein bisschen klönen und dann muss auch noch ein aufgebrachter Bewohner beruhigt werden – und dies ist nur ein kurzer Auszug der Liste.

Maicl muss angesichts der „Parade“ an diesem Morgen grinsen. „Ach, geht doch noch“, sagt er und hört mit bewundernswerter Geduld jedem zu, den sein Mitteilungsbedürfnis zur Anlaufstelle treibt. Hier wird ein Teil der sozialarbeiterischen Arbeit in der Einrichtung abgedeckt. Normalerweise sind er und Kolja oft und aktiv in der Unterkunft unterwegs. Für unser Gespräch sitzen Maicl und ich aber im Büro mit Fensterfront quasi auf dem Präsentierteller und das wird auch genutzt. „In unserer Arbeit steht die Beziehung an erster Stelle. Man kann den Menschen nur helfen, wenn sie mitmachen. Ich will für die Leute da sein und Harmonie ausstrahlen. Dann kann es klappen, zusammen Möglichkeiten und Wege zu finden, die die Lebensumstände verbessern“, führt er aus, bevor wieder jemand an die Scheibe klopft. Das AWO Team ist immer ansprechbar und bleibt bei den Bewohner*innen auf „Ballhöhe“, hört sich Sorgen, Nöte oder einfach nur an, was gerade so vorgeht – wichtig für die pädagogische und sozialarbeiterische Arbeit.

„Es ist Betreuung, im wahrsten Sinne des Wortes“, nimmt er den Faden ein paar Minuten später wieder auf. Angedockt sind er und sein Kollege Kolja bei der AWO im Bereich „Soziales“ und Mitarbeiter der Schuldnerberatung. „Es war eine weise Entscheidung, hier zusätzlich Schuldnerberatung anzubieten. Finanzielle Probleme sind in der Regel unsere Hauptbeschäftigung. Viele kommen nur mit dem Hemd, das sie am Leibe tragen“, führt Maicl Platzek aus. Der Weg in die Liebrechtstraße ist häufig folgender: Verschuldung, Überschuldung (keine Möglichkeit mehr, die Schulden selbst abzutragen), Mietrückstände, Zwangsräumung, Notunterkunft. Nicht selten sind Arbeitslosigkeit, Sucht oder andere persönliche Krisen Begleiter auf diesem Weg. Zunächst gehe es darum, innerhalb der ersten 24 Stunden mit dem Neuankömmling ins Gespräch zu kommen und für das Notwendigste zu sorgen, eventuell Angehörige zu informieren. „Es kommt immer wieder vor, dass die Menschen noch nicht richtig begriffen haben, in welcher Situation sie nun stecken. Das müssen wir dann erstmal vermitteln. Ziel ist es, sie größtmöglich zu stabilisieren.“ Und schon klopft es wieder an der Scheibe.

Ich vertiefe mich während des folgenden Gespräches zwischen Maicl und dem Bewohner in Statistiken. 115 Menschen sind zum Zeitpunkt meines Besuches in den insgesamt sechs Gebäuden an der Liebrechtstraße untergebracht, im Schnitt sind es 117 bis 119. Der Frauen- und Männeranteil hält sich ungefähr die Waage. Mehr als die Hälfte der Bewohner*innen sind zwischen 46 und 67 Jahre alt, dann folgen die 31- bis 45-Jährigen, dann die Altersgruppe 68 bis 80 Jahre. Man ahnt: Angesichts dessen sind die Herausforderungen ziemlich vielschichtig.

„Ein bunter Strauß“, kommentiert Maicl, nachdem er seinen Gesprächspartner verabschiedet hat. „Das Ziel ist es natürlich, die Verweildauer hier in der Einrichtung möglichst kurz zu halten“, erläutert er. Dass dies angesichts der aktuellen Mietwohnungssituation nicht immer möglich ist, versteht sich von selbst. „Wir haben glücklicherweise die CVJM Sozialwerk gGmbH zur Partnerin. Die Mitarbeitenden sind sehr gut vernetzt, kooperieren u.a. mit der Stadt und Wohnungsunternehmen. Das ist bei der Lösung von Wohnungsproblemen hier sehr ausschlaggebend“, stellt Maicl Platzek fest.

Doch wenn es nur das wäre. Sein „bunter Strauß“ ist erheblich „farbenfroher“. Zugang zu ärztlicher Versorgung schaffen, Kontakt zu Organisationen wie der Aidshilfe herstellen, Sorgerechts-Themen, Haftbefehle, Hilfe bei weiteren Behördenangelegenheiten, davon zum Teil auch Aufenthaltsproblematik, Suchthilfe, Versorgung mit Kleidung, Kontakt zur Essener Tafel vermitteln, bei älteren Bewohner*innen Pflegeproblematik, Unterstützung bei Rückführung in den Job: Dies sind nur einige der Spielfelder, auf denen sich er und Kollege Kolja immer wieder bewegen. „Alles, was der Alltag so mit sich bringt“, fasst Maicl lakonisch zusammen und muss angesichts der Vielfältigkeit selbst ein bisschen schmunzeln. Wo ihm allerdings das Lächeln vergeht, sind die psychischen Erkrankungen. „Die Menschen bringen ja auch ihre Geschichten mit und brauchen teilweise psychotherapeutische Betreuung. Das sind oft ganz andere Herausforderungen. Es ist aber in Essen so wie wohl überall in Deutschland: Es fehlen Therapieplätze“, sagt er.

Ein robustes Naturell, wahrscheinlich eine Grundvoraussetzung für den Job, das bringt er mit. „Natürlich ist unsere Tätigkeit hier eine Herausforderung. Aber proaktiv zu sein und etwas zu gestalten, das ist auch ein Lebensmotto von mir. Vielleicht liegt das daran, dass meine Eltern in Frohnhausen die Gaststätte ,Platzeks gute Stube‘ betrieben hatten. Da war immer das pralle Leben.“ Doch Letzteres meldet sich nach unerwartet langer Gesprächszeit schon wieder zurück. Klopf, klopf, der nächste Bewohner steht vor Maicls Bürofenster. Es geht weiter.

Autor*in Markus Grenz
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