Migrantinnen und die Kunst der Erinnerung

„Hast wirklich du das gemalt, Mama?“ - Teilnehmerinnen aus Altendorf machen einen besonderen Mal-Kurs

Alle sind sie im Rentenalter – und Kunst stand bis vor kurzem bei keiner dieser älteren Damen im Mittelpunkt. Sie alle gehören nicht zur klassischen Mittelstands-Klientel, die die Mal-Kurse an Kunstakademien oder Volkshochschulen stürmen. Und doch hat all die Frauen aus Altendorf eine späte Leidenschaft erfasst - die Liebe zur Malerei.

Der Kurs mit dem Titel "Das Mal-Spiel und die Kunst der Erinnerung" hat 12 Teilnehmerinnen, türkische Seniorinnen aus Essen-Altendorf. Die jüngste Teilnehmerin des Kurses ist Fehime Inci, 65 Jahre alt und gerade im Ruhestand. Die anderen Teilnehmerinnen sind alle Mitte 70. Der Kurs wird seit Anfang dieses Jahres in Zusammenarbeit mit der Integrationsagenturen AWO und Diakoniewerk organisiert. Die Teilnehmerinnen treffen sich jeden Mittwochnachmittag im Seniorenbegegnungszentrum in der Ohmstraße in Altendorf.

Direkt nach Abschluss des Kurses schickt Hediye Kaya über ihr Mobiltelefon sowohl ihren Kindern als auch den Enkeln das Foto des Bildes, das sie heute gemalt hat. Alle warten schon gespannt darauf, welches Motiv es dieses Mal ist. Hediye Kaya hat sieben Kinder und zwölf Enkelkinder. Die 75-jährige lebt seit 1973 in Deutschland. Alle ihre Kinder haben studiert, eine ist sogar Richterin geworden. Sie ist stolz auf ihre Kinder. Durch den Kurs fühlt sie sich, als ob sie ihre abgebrochene Schulbildung aus ihrer Kindheit in der Türkei nun vollendet. Kaya wuchs in Agri im Osten der Türkei auf, unweit des biblischen Arche-Noah-Berges Ararat. Im Mal-Kurs ist sie sehr diszipliniert, saugt das neue Wissen geradezu auf, versucht voller Eifer, die neu erlernten Mal-Stile und -Techniken umzusetzen.

Hediye Kaya hatte anfangs nie daran gedacht, dass sie einmal malen könnte. Sie dachte, sie hätte kein Talent. Vor allem weil sie eine schwere Krankheit überstanden hat und einige Finger nicht mehr bewegen kann. Jetzt versucht sie sogar, ihre Arzttermine abzusagen, um am Kurs teilnehmen zu können. "Letzte Woche hat sich unsere Gruppe im Folkwang-Museum getroffen, leider konnte ich nicht hingehen. Ich hätte zwei Monate warten müssen, wenn ich meinen Krankenhaus-Termin abgesagt hätte!" Indes: Überlegt hat sie es schon…

Yaşar Aksen, der Kursleiter, hat alle Teilnehmerinnen davon überzeugt, mit dem Malen anzufangen. Aksen kennt die Teilnehmerinnen seit längerem, da er schon andere Kurse mit der Gruppe durchgeführt hat. Sein Vertrauen und seine Zuversicht motivieren und stärken die Frauen. Der 60-jährige Kursleiter bringt den Teilnehmerinnen nicht nur das Malen bei, er klärt sie auch über Farben und Maltechniken auf, redet mit ihnen über Kunst. Die Mitglieder dieser Gruppe könnten aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse leider nicht an den Aktivitäten für deutsche Senioren teilnehmen, sagt er. „Ich kenne diese Menschen gut und wollte gerne etwas Schönes auf Türkisch mit ihnen machen - abseits von Krankheits- und Gesundheitsthemen.“ Er war sich nicht sicher, ob die Frauen am Kurs teilnehmen würden. „Zuerst haben sie es alle abgelehnt und gesagt, dass sie nicht malen könnten. Sie meinten, ein solcher Kurs sei nichts für sie.“ Schließlich haben die Frauen sich dann doch getraut. „Begeisterung kam erst auf, als sie merkten, was sie alles erreichen können“, sagt Aksen. Der Kursleiter achtet auf die unterschiedlichen Fähigkeiten der Teilnehmerinnen, gibt Hilfestellungen, motiviert sie und nimmt ihnen so die Angst.

Gülcan Dogan sagt: „Hier merken wir nicht, wie die Zeit vergeht". Sie sagt, dass sie Gemälde nun mit einem anderen Blick betrachtet. Sie ist so wissbegierig. Die anderen Kursteilnehmerinnen lachen und sagen, dass sie näher beim Kursleiter sitzt, um noch mehr lernen zu können. Frau Dogan hat drei Kinder und zehn Enkelkinder. Sie kam 1974 nach Deutschland. Frau Dogan hat ihre Kinder aufgezogen und zudem 18 Jahre lang im Essener Uni-Klinikum als Küchenhilfe gearbeitet. Sie hatte nie Zeit für sich selbst. Sie ist so glücklich über den Kurs.

Die 75-jährige Uygun Görenel sagt, dass sie sich beim Malen in einer anderen Welt fühlt - wie bei einer Meditation. Hier sind all ihren Sorgen fern. Fehime Inci erzählt begeistert: "Meine Tochter kann nicht glauben, dass ich diese Bilder gemalt habe. Sie fragt mich: ‚Hast wirklich du das gemalt, Mama?' Sie sind wirklich schön wie Fotos."

Das größte Ziel der Gruppe ist es, Ende des Jahres eine Ausstellung ihrer Bilder zu organisieren. Man spürt: Da ist Selbstbewusstsein gewachsen.

Autor*in Çağla Sorgun
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