„Es sind viele Emotionen im Spiel“
Interview mit dem Migrationsforscher PD Özkan Ezli

„Überschätzte Identität. Oder wie wir uns wieder mit der Gemeinschaft beschäftigen können“: So wird die dreiteilige Veranstaltungsreihe überschrieben, die die Essener AWO mit ihrer Integrationsagentur und ihrem Paul-Gerlach-Bildungswerk in Kooperation mit der städtischen Stabsstelle Integration im Bezirk III mit Unterstützung des Jugendamtes durchführt. Ort und Namensgeber der Reihe ist die evangelische Melanchthon-Kirche, Melanchthonstraße 3, in Holsterhausen. Zum Start der Reihe durften die Veranstalter*innen den Münsteraner Kulturwissenschaftler PD Dr. Özkan Ezli (Universität Münster) begrüßen. Der renommierte Kultur- und Literaturwissenschaftler hielt einen Vortrag zum Thema Integration. Das Referat basierte auf Ezlis langjähriger Forschung auf dem Gebiet „Gefühlskulturen in der Einwanderungsgesellschaft zwischen Verweigerung und Teilhabe". Anschließend sprachen Christian Uhl von der städtischen Stabstelle Integration und Çaǧla Sorgun von der Integrationsagentur der AWO mit dem Wissenschaftler.
Sorgun und Uhl: Migration, Flucht und Integration sind seit Jahren Top-Themen in der Gesellschaft und lösen Emotionen in der Aufnahme-Gesellschaft aber auch bei den Migranten aus. Sie forschen seit Jahren zu dem Thema. Ihnen geht es dabei in erste Linie nicht um Zahlen. Warum sind für Sie die Emotionen der Migranten für Sie von Interesse?
PD Dr. Ezli: Dafür gibt es sehr viele Gründe. Sie reichen von der Geschichte der Migration in die Bundesrepublik - 1955 bis heute, ihre über Generationen hinausreichenden Folgen, von sehr heiß geführten Debatten von Sarrazin vor mehr als zehn Jahren bis heute zur Frage des Gaza-Kriegs. Es sind sehr viele Emotionen, negative wie auch positive im Spiel, die in manchen Fällen auf vielen Erlebnissen, Erfahrungen (lange Geschichte) oder manchmal auch umgekehrt auf kaum Erfahrungen (kurze Geschichte) aufbauen. Allein die Frage, wo kommst Du ursprünglich her, die heute mitunter als rassistisch empfunden wird, war in den 1980er-Jahren ein Dialogöffner, also das genaue Gegenteil. Oder auch die Identifikation als Muslim ist heute eine andere als früher, weitaus emotionaler. Identität ist heute einfach zu einer emotional sehr aufgeladenen gesellschaftlichen Kategorie avanciert. Dies zeigt sich aber nicht nur bei Menschen mit Einwanderungsgeschichte oder Migrationshintergrund, sondern auch bei Fragen des Geschlechts, wie es uns eindrücklich die LGBQT+-Bewegung zeigt. Es gibt also genug Gründe nach den Gefühlskulturen in einer Einwanderungsgesellschaft zu fragen.
In Ihren Vorträgen stellen Sie Interviewpartner*innen vor, die über ihr Leben, ihre Familien und ihre Bildung sprechen. Können diese sehr individuellen Erfahrungen und Perspektiven wirklich als repräsentativ verallgemeinert werden?
In unserem Forschungsprojekt, das ich gemeinsam mit dem Soziologen Prof. Dr. Levent Tezcan realisiere, geht es zunächst nicht um die Frage der Repräsentativität. Im Zentrum steht wirklich, zu analysieren und zu verstehen, wie es zum Wandel der Gefühle gekommen ist. Dafür braucht es tiefergehende und genaue Analysen, die Zeit brauchen. Diese sind wissenschaftlich mit 2000 Probandinnen und Probanden und mehr, ab diesen Zahlen spricht man überhaupt von repräsentativen Studien, durch qualitative Analysen, wo ein Interview allein über zwei Stunden dauert, nicht zu leisten. Bei quantitativen Studien werden beispielsweise kurze Telefoninterviews gemacht, mit denen die Komplexität von Geschichte und Affektlagen kaum erschlossen werden kann. Ich würde aber trotzdem behaupten, dass unsere Studie „Gefühlskulturen in der Einwanderungsgesellschaft zwischen Verweigerung und Teilhabe“ mit mehr als 120 Probandinnen und Probanden – der Probandendurchschnitt bei qualitativen Studien liegt bei ca. 30, über drei Generationen hinweg einen repräsentativen Grad erreicht. Aber wie gesagt, geht es nicht im Kern um die Frage der Repräsentativität, sondern durch die Diversität der Probanden und Städte um belastbare Analysen zu leisten, warum sich die Gefühle in der deutschen Einwanderungsgesellschaft verändert haben. Ich denke auch, dass manchmal das Verstehen von Phänomenen und Problemen mehr hilft als Zahlen und Repräsentativität.
Sie betonen, dass Betroffene ihre Situation genau analysieren sollten, bevor sie von strukturellem Rassismus sprechen. Bedeutet das, dass nicht jede als rassistisch empfundene Aussage tatsächlich rassistisch ist?
Da haben Sie mich, glaube ich, ein wenig falsch verstanden. Es geht mir nicht darum, dass alle sich betroffen Fühlenden zu Analytikern werden. Im Gegenteil ist es ein Transferziel der Studie, zunächst mal die Heterogenität der Wahrnehmungen und mitunter Erfahrungen von Diskriminierung oder Rassismus aufzuzeigen, für Menschen mit Migrationshintergrund wie auch ohne. Welche Erfahrungen von Verletzung beruhen auf Vorurteilen, welche auf Aussagen und welche auf systematischen Ungleichbehandlungen. Und die Analysen der jeweiligen Antworten darauf sind nicht leicht. Dafür bedarf es der Anwendung genauer kulturwissenschaftlicher Methoden. Diese muss ich erstmal leisten, dann sie vermitteln, dann darauf hoffen, dass darauf aufbauend von nicht-deutscher wie von deutscher Seite eine gewisse analytische Aufmerksamkeit von allen Beteiligten und nicht allein der Betroffenen einsetzt.
In Ihrer Arbeit setzen Sie sich kritisch mit gängigen Vorstellungen von „Identität“ auseinander, die ja – sollte man meinen – eigentlich etwas sehr Notwendiges darstellt. Welche Resonanz nehmen Sie da wahr, beispielsweise bei Ihren Studierenden?
Die Reaktionen sind da unterschiedlich. Sie reichen von der Lusterfahrung neuer Erkenntnis, von Aufgewühltheit, Irritation, Zustimmung bis zu Ermutigung jenseits diskursiver und identitätspolitischer Voreinstellungen zu denken. In jedem Fall ist es aber jedes Mal eine Auseinandersetzung, die ich aber als anregend und produktiv empfinde. Denn ich merke auch immer wieder, dass die Dauer der Irritationen oder Erkenntnisse nicht lange anhält. Und da allein muss ich jedes Mal feststellen, wie wirkmächtig Debatten und Diskurse sind. Soziale Medien wirken da mitunter wie Brandbeschleuniger, aber nicht nur.
Entscheidend für Verstehen und Verständnis ist, so sagen Sie, ‚der Ort, von dem aus man spricht‘. Ein wichtiger Bezugsort für viele Großstadtbewohner*Innen sind der Stadtteil und die Nachbarschaft, in denen man wohnt. Wie kann ‚der Stadtteil‘ auch bei der Entwicklung einer ‚gemeinsamen Blickrichtung‘ eine Rolle spielen? Welche Maßnahmen würden Sie vorschlagen?
Also zunächst mal ist uns aufgefallen, dass die Selbstpositionierung der Probanden in einem engen Verhältnis zu ihren Affektlagen steht. Beispielsweise hat eine Probandin bei ihrer Vorstellung aufgelistet, wo ihr Großvater, Vater und ihre Mutter geboren wurden, sich selbst hat sie aber dabei einfach als eine Person mit Migrationshintergrund vorgestellt. Ihr Geburtsort ist sozusagen die Zuschreibung. Und tatsächlich gehört sie zu den Probanden, die eine hohe Sensibilität zeigen, wenn es um die Aussprache nicht-deutscher Namen geht. Eine nicht korrekte Aussprache begreift sie beispielsweise als ein Kennzeichen von Rassismus. Sie nennt es „Micro Rasicm“. Personen, die sich konkreter verorten können, weisen eine ausgeglichenere Affektlage auf. Das ist interessant. Und was das für das Leben in Stadtteilen heißt, könnte zum Beispiel sein, Formen, Möglichkeiten, letztlich Orte des Austauschs und des Kontakts zu schaffen, die als Folge eine engere Bindung an den Ort der Tätigkeit mit sich bringen. Denn die von mir erwähnte Probandin, die selbstverständlich für einige andere in der Studie steht, kann sich weder klar als Türkin noch als Deutsche, noch als jemand, die einen bestimmten Ort als ihre Heimat begreift, positionieren. Ich denke, wichtig wird es für die kommunale Integrationsarbeit sein, weniger von Identitätszugehörigkeiten zu sprechen, sondern vielmehr von Ortsbezüglichkeiten, von Plätzen an denen man arbeitet, lebt und mit anderen Menschen interagiert.
Özkan Ezli wurde 1975 in Deutschland geboren. Er absolvierte das Abitur am Technischen Gymnasium in Wolfach und studierte Islamwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Freiburg. In Tübingen promovierte er in Germanistik mit der Dissertation „Grenzen der Kultur. Autobiografien zwischen Orient und Okzident“. Seine Habilitation, „Narrative der Migration. Eine andere deutsche Kulturgeschichte“, verfasste er ebenfalls in Tübingen. Seit 2021 arbeitet er an der Universität Münster im Rahmen des BMBF-Forschungsprojekts „Gefühlskulturen in der Einwanderungsgesellschaft zwischen Verweigerung und Teilhabe“ (2021-2025), gemeinsam mit Prof. Dr. Levent Tezcan vom Institut für Soziologie der Universität Münster.