Offener Brief der AG Wohlfahrt Essen zum geplanten Sozialhaushalt des Bundes 2024

Drastische Kürzungen im sozialen Bereich vorgesehen

Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege haben sich in Essen in der AG Wohlfahrt, der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände Essen, zusammengeschlossen. Die Arbeiterwohlfahrt Essen, der Caritasverband für die Stadt Essen, der Paritätische Essen, das Deutsche Rote Kreuz Essen, die Diakonie Essen und die Jüdische Gemeinde verfolgen in der Liga gemeinsame Ziele: Die Weiterentwicklung der sozialen Arbeit in Essen und die Sicherung bestehender Angebote.

Der Entwurf des Bundeshaushaltes für das Jahr 2024 mit drastischen Kürzungen im sozialen Bereich hat die AG Wohlfahrt zu einem offenen Brief an die Essener Abgeordneten im Bundestag veranlasst:

Offener Brief der AG Wohlfahrt Essen: Kürzungen im Sozialhaushalt des Bundes 2024

An die Essener Mitglieder im Deutschen Bundestag: Herrn MdB Sebastian Fiedler, Herrn MdB Dirk Heidenblut, Herrn MdB Matthias Hauer, Herrn MdB Kai Gehring

Sehr geehrte Herren Abgeordnete,

mir großer Bestürzung haben wir zur Kenntnis genommen, dass der Entwurf des Bundeshaushalts für das Jahr 2024 dramatische Kürzungen im sozialen Bereich vorsieht. Die geplanten Kürzungen hätten nicht nur massive Auswirkungen auf die soziale Infrastruktur, sondern auf das gesamte Gemeinwesen sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserer Heimatstadt.

Für zumindest drei Themenbereiche möchten wir Sie in diesem Schreiben eindringlich sensibilisieren, da Kürzungen in diesen Bereichen, aus Sicht der freien Wohlfahrtspflege in Essen, besonders negative Auswirkungen für unsere Stadtgesellschaft haben würden:

  1. Migrations- und Asylverfahrensberatung (MBE/AVB) und Jugendmigrationsdienste
  2. Arbeits- und Beschäftigungsförderung
  3. Freiwilligendienste (FSJ/BFD)

Zu 1.: Das bundesgeförderte Angebot MBE bietet seit 2005 professionelle sozialpädagogische Beratung für erwachsene Zugewanderte, unter anderen beim Zugang zu Bildung, der Erlangung eines Aufenthaltstitels, dem Erlernen der deutschen Sprache oder der Integration in den Arbeitsmarkt. Die Ratsuchenden profitieren von den Netzwerken und vielfältigen sonstigen niedrigschwelligen Angeboten der freien Träger, in die im Rahmen der Beratung weitervermittelt wird. Die im Haushaltsentwurf vorgesehene Kürzung von 81,5 Mio. € auf 57,5 Mio. € wird zum Wegfall von mehr als 30% der Beratungskapazitäten führen.

Für die AVB stellt sich die Situation noch dramatischer dar, die für dieses Arbeitsfeld vorgesehenen Mittel im Haushalts bedeuten faktisch einen Wegfall von 50% der Angebote. Angesichts drohender Kürzungen und dem ohnehin steigenden Druck durch Tarif- und Kostensteigerungen ist der Fortbestand dieser Arbeitsfelder akut gefährdet.

Im Jahr 2022 haben die Jugendmigrationsdienste (JMD) über 120.000 junge Menschen aus 180 Nationen mit individueller Unterstützung und Gruppenangeboten unter intensiver Vernetzung mit Schulen, Ausbildungsbetrieben, Integrationskursträgern und Einrichtungen der Jugendhilfe begleitet und beraten. Bei den Jugendmigrationsdiensten soll mehr als ein Drittel der Mittel gekürzt werden. Integrationsleistungen für junge Menschen werden massiv beschnitten und der soziale Zusammenhalt wird weiter gefährdet. Folgekosten aufgrund mangelnder Integration entstehen. Aufgrund der angekündigten Kürzungen muss die Arbeit der Respekt Coaches zum Jahresende 2023 eingestellt werden.

Es ist für uns unverständlich und kontraproduktiv, warum gerade in der Zeit der höchsten Zuwanderung seit der großen Fluchtbewegung nach Ende des zweiten Weltkriegs und eines immer noch größer werdenden Fachkräftemangels die wichtigsten Angebote für Geflüchtete und Migrant*innen drastisch reduziert werden.

Zu 2.: Für die Finanzierung der Arbeits- und Beschäftigungsförderung sind deutliche Kürzungen vorgesehen. Insgesamt sollen 500 Mio. € weniger zur Verfügung gestellt werden als 2023. Ab 2025 soll die Zuständigkeit für die Arbeitsförderung der unter 25-Jährigen von den Jobcentern in die Agenturen für Arbeit verlagert werden. Dort bestehen allerdings keine Strukturen für die Betreuung junger, langzeitarbeitsloser oder geflüchteter Menschen.

Die Förderung von beruflicher Weiterbildung und Integration in Arbeit wird nicht wirksam umgesetzt werden können. Besonders betroffen sind die Förderungen, mit denen eine nachhaltige Integration von Menschen, die bereits lange Leistungen des Jobcenters beziehen, erreicht werden soll. Gerade erst hat die Bundesregierung diese Leistungen (unter anderem § 16i SGB II) entfristet. Jetzt fehlt das Geld, das Versprochene umzusetzen. Das gilt auch für alle neuen Integrationsmaßnahmen, die mit dem Bürgergeld versprochen wurden. Fortbildungen und besseres Coaching sind dadurch nur vereinzelt umsetzbar. Kürzungen im Bereich der Arbeits- und Beschäftigungsförderung stehen im Widerspruch zum branchenübergreifend zunehmenden Fachkräftemangel. Für die Freie Wohlfahrtspflege besteht die Gefahr, dass Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten im Bereich der Gemeinwohlarbeit, in Stadtteilprojekten und in sozialen Einrichtungen zukünftig nicht mehr finanziert werden können. Spürbar wird dies insbesondere leider vor Ort in den Essener Stadtteilen, denn diese Angebote und Dienste müssen dann eingestellt werden.

Zu 3.: Im Bundeshaushalt 2024 sind Kürzungen bei den Freiwilligendiensten vorgesehen. Die Förderung des Freiwilligen Sozialen Jahres und des Bundesfreiwilligendienstes soll 2024 um insgesamt 78 Mio. € und 2025 um weitere 35 Mio. € gekürzt werden. Durch einen Freiwilligendienst erhalten soziale Einrichtungen wichtige Unterstützung und Entlastung. Die Freiwilligen übernehmen Hilfstätigkeiten und treiben Projekte voran, für die im Arbeitsalltag der stark belasteten Fachkräfte oft keine Kapazitäten zur Verfügung stehen. Zugleich sind Freiwilligendienste ein wichtiges Erfahrungs- und Orientierungsfeld in dem bürgerschaftliches Engagement und gesellschaftlicher Zusammenhalt gestärkt werden. 50 % der Freiwilligen entscheiden sich nach dem Freiwilligendienst für eine Ausbildung oder ein Studium im sozialen Bereich oder bleiben den Einsatzstellen im Ehrenamt erhalten. Konkret bedeuten die Kürzungen einen Wegfall von jeder vierten Einsatzstelle. Dies würde sich unmittelbar auf den Alltag in Essener Kitas, Schulen, Sportvereinen, Kultur- und Senioreneinrichtungen auswirken. Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung, dem Fachkräftemangel in sozialen Berufen und der tendenziell abnehmenden Bereitschaft sich sozial zu engagieren, sind die vorgesehenen Kürzungen in keiner Weise nachvollziehbar.

Wir bitten Sie eindringlich, sich für diese für die gesamte Gesellschaft so wichtige Arbeit stark zu machen und sich in den anstehenden Haushaltsberatungen dafür einzusetzen, dass die geplanten Kürzungen zurückgenommen und die Themenbereiche entsprechend der Ankündigungen im Koalitionsvertrag weiter gestärkt werden.

Herzliche Grüße,
Philipp Hennen / Sprecher AGW Essen

Autor*in Hennen / Schönenborn
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